Wittgikofen – Fragmente eines Mikrokosmos
Seit Jahren übt das Wittigkofenquartier in Bern eine besondere Anziehung auf mich aus – eine stille Faszination, schwer in Worte zu fassen. Es ist ein Ort, der sich nicht einfach erklären lässt. Vielleicht liegt seine Kraft gerade in seinen Gegensätzen: Hochhäuser wie aus dem Boden geschossene Türme, eine Architektur zwischen Utopie und Abgrenzung, belebt von einer sozialen Vielfalt, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft als „Rand“ bezeichnet wird – als wäre das Zentrum woanders.
Mit dieser fotografischen Arbeit begebe ich mich auf eine mehrjährige, intensive Spurensuche durch diesen urbanen Mikrokosmos. Das Quartier Wittigkofen steht exemplarisch für eine Realität, die vielschichtiger ist als jedes Klischee: Kinderstimmen auf Spielplätzen, Spaziergänge unter alten Bäumen, Jugendliche mit E-Trottinetts vor dem Denner, Frauen mit Kinderwagen und Shisha, ältere Menschen, die seit Jahrzehnten hier wohnen. Es ist laut und leise, roh und zart zugleich.
Zwischen Hochhausetagen, Innenhöfen und Bergsicht offenbart sich ein Lebensraum, der von Vielfalt und Widersprüchen geprägt ist. In Gesprächen mit Bewohnerinnen und Bewohnern – etwa Frau Zolliger, Jahrgang 1935, seit über 50 Jahren hier zuhause, oder Familien, die in dritter Generation im Quartier leben – wird spürbar, wie sehr dieser Ort Identität stiftet. Und wie oft er gleichzeitig von aussen stigmatisiert wird.
Meine Arbeit versteht sich nicht als Verteidigung oder Idealisierung, sondern als Versuch, genauer hinzuschauen – jenseits pauschaler Begriffe wie „Ghetto“ oder „Problemviertel“, die allzu schnell bereitliegen. In einer komplexen Welt neigen wir dazu, einfache Erzählungen zu wählen. Doch wer sind „wir“, und worauf stützen sich diese Zuschreibungen?
Ich frage: Wie gerecht ist unser Blick auf urbane Räume, die viele Migrant*innen bewohnen? Was sehen wir – und was übersehen wir? Und was bedeutet es, sich ein Urteil zu bilden, ohne den Alltag vor Ort wirklich zu kennen?
Diese Arbeit möchte kollektive Sichtweisen hinterfragen – nicht laut, sondern leise, mit Respekt vor den Geschichten, Menschen und Räumen, die sich in ihrer stillen Komplexität zeigen. Sie lädt ein, urbane Wirklichkeit nicht nur durch statistische oder mediale Filter zu betrachten, sondern durch Bilder, Begegnungen und Momente, die sich nicht sofort einordnen lassen.
Wittigkofen ist ein Ort, an dem Stadt und Peripherie ineinanderfliessen. Er ist Fragment und Ganzes, Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche – und zugleich Heimat für viele.